- Roman und kleine Gedichte: Literarische Formen des Hellenismus
- Roman und kleine Gedichte: Literarische Formen des HellenismusKallimachos, der vor 300 v. Chr. in Kyrene geboren wurde, in Alexandria Mitglied des Museion (einer Art Akademie) war, in der Alexandrinischen Bibliothek arbeitete und wohl 240 v. Chr. starb, kam in engen Kontakt mit dem Hof des Diadochenkönigs Ptolemaios II., zu dessen Machtbereich Ägypten und weite Gebiete am östlichen Mittelmeer gehörten. Kallimachos lehnt prinzipiell das große Epos ab, er liebt wie sein Vorbild Philitas von Kos das kleine Gedicht. Seine sechs Götterhymnen - zwei von ihnen in dorischem Dialekt - kann man sich beim Symposion vorgetragen denken; es sind vielschichtige Gebilde, da in ihnen Erzählfreude, Gelehrsamkeit, Ergriffenheit und Distanz, Ernst und Witz, Rührendes und Schreckliches rivalisieren; dabei wird auch Ptolemaios gepriesen. Zum Herrscherlob gehört auch die humorvolle Elegie von der an den Himmel versetzten »Locke der (Königin) Berenike«.Programmatisch für die hellenistische Dichtung ist das Epyllion (Kleinepos) »Hekale« geworden: Theseus kehrt auf dem Wege, den Stier von Marathon zu töten, bei der Greisin Hekale ein; ganz unepisch wird nicht seine Heldentat, sondern rührend das betuliche Wesen der armen Frau geschildert. In seinem Hauptwerk, den »Aitia«, hatte Kallimachos die Ursprünge von Kulteigentümlichkeiten mit großer Gelehrsamkeit erklärt; dieses Lehrgedicht verfasste er entgegen der Tradition nicht in Hexametern, sondern in elegischen Distichen. Theokrit hatte in derselben Zeit seine Lebenskreise in Syrakus, wo er geboren ist, in Alexandria, das heißt in zwei antiken Großstädten, und auf der Insel Kos. Neben mythischen Stoffen widmete er sich dem Alltag von kleinen Leuten im Großstadtmilieu und andererseits als Kontrast zum städtischen Umfeld den Hirten (von den Rinderhirten »Boukoloi« leitet sich »Bukolik« ab) und Landarbeitern, also dem Leben und der Liebe vom städtischen Bürgertum abgesetzter sozialer Gruppen. Hieron II., den Herrscher von Syrakus, hat er andererseits gerühmt und in Ägypten für König Ptolemaios II. ein ergebenes Enkomion (Loblied) gedichtet. Auch seine Gedichte sind klein, »Eidyllia«, und vor dem Hintergrund der epischen Sprache in dorischem oder äolischem Dialekt verfasst, was zur damals deutlichen Tendenz hin zu einer griechischen Gemeinsprache, der Koine, im Gegensatz steht.Bei Kallimachos, Theokrit und anderen Dichtern dieser Zeit fehlt das Streben, politisch wirksam zu werden. Ihr Lesepublikum dürfte vielmehr im Kreis der Höflinge, vor allem aber bei den Gebildeten zu suchen sein, die, von einer aktiven Politik ausgeschlossen, sich an verfeinerter dichterischer Darstellung ungewohnter Aspekte des Mythos und des Lebens auch von sozialen Randgruppen erfreuen konnten. Das gleiche Publikum, das, politisch ohne Einfluss, seinem Alltag entfliehen wollte, können wir für den Roman voraussetzen. Im griechischen Roman geht es zentral um das private Glück; als seine Grundstruktur heben sich die Abenteuer eines Liebespaares ab, das, durch eigene Schuld oder fremdes Einwirken getrennt, sich in vielen bedrohlichen Situationen auch in fernen, exotischen Weltgegenden treu bleibt und am Ende wieder vereint wird.Die Antike kannte keinen Gattungsbegriff für diese Literaturform und nannte sie unter anderem »Drama«, »Komodia« und »Fabula«. In die griechischen Romane, die nach älteren Vorformen im 2. oder 1. Jahrhundert v. Chr. entstanden sein dürften und im attischen Dialekt nicht ohne Einfluss der Koine, der allgemeinen Verkehrssprache des Hellenismus, verfasst wurden, sind Elemente aus verschiedenen Gattungen eingegangen: Aus dem Epos die trotz aller Versuchungen und Irrfahrten bewahrte Liebe und die Wiedervereinigung des Odysseus mit Penelope dank deren Treue, aus den euripideischen Tragödien und der neuen attischen Komödie das psychologische Moment im Verhalten getrennter Liebespaare und Formen des Wiederfindens nach langer Trennung, aus der Periplusliteratur, den Reiseberichten, wunderbare Dinge und Begebenheiten in fernen Ländern; hinzu kommen utopische Reiseberichte wie die des Euhemeros von Messene und eines Iambulos sowie aus historischen Darstellungen Kämpfe mit überraschenden Handlungsumschwüngen. Als übermenschliche Mächte setzen vor allem die Schicksalsmacht Tyche, aber auch Aphrodite und Eros das Geschehen in Gang.Der erste ganz erhaltene, vielleicht schon aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. stammende Roman ist der des Chariton von Aphrodisias, »Kallirhoe«. Mehrere Romane sind aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. vollständig überliefert: die »Ephesiaka« des Xenophon von Ephesos sowie »Leukippe und Kleitophon« des Achilleus Tatios; um 200 n. Chr. entstand des Longos Roman »Daphnis und Chloe«; in diesem Roman finden wir eine Variation zum Grundtyp: Ein im Erotischen unerfahrenes junges Hirtenpaar kommt schließlich zu glücklicher Vereinigung und Wohlstand. Weit ins Mittelalter wirkte der im 3. Jahrhundert n. Chr. aus älteren Quellen zusammengesetzte und in verschiedenen Fassungen überlieferte »Alexanderroman«. Im 3. oder 4. Jahrhundert n. Chr. schließlich schrieb Heliodor seine »Aithiopika«; mit größter Kunst verschränkte er die verschiedenen Handlungsstränge und baute eine Spannung auf bis hin zum »Happy End«. Von allen griechischen Romanautoren hatte er die stärkste Nachwirkung. Romane oder romanartige Darstellungen sind auch im christlichen Bereich bis zum Ende der Antike verfasst worden.Prof. Dr. Hans Armin Gärtner und Dr. Helga Gärtner
Universal-Lexikon. 2012.